EU-Parlament in Brüssel mit blühenden Bäumen

Bürgerkonvent |

Die Zukunft der EU liegt in ihrer Reformfähigkeit

Wahl 2019, EU-Reform (DE), Spitzenkandidaten

Die Wahlen zum EU-Parlament sind vorbei und offenbarten, dass die Bürger*innen dieser Institution großes Vertrauen entgegenbringen. Jetzt ist es an der Zeit, den nächsten Schritt zu gehen, und die EU einer demokratischen Generalrevision zu unterziehen, um sie stark zu machen angesichts der vielfältigen Herausforderungen, die auf uns zukommen.

Was wurde nicht gejammert und geklagt: „Schicksalswahlen“, „das Ende der EU droht“, „die Nationalisten werden nach der Wahl die EU blockieren“ usw. Ich konnte mich diesen Dramatisierungen nie recht anschließen und finde, dass die Bürger*innen sich letzten Endes sehr klug und verantwortungsvoll gezeigt haben. Es gab keinen Durchmarsch der Anti-EU-Kräfte, und die „große Koalition“ aus Christ- und Sozialdemokraten hat ihre Mehrheit verloren, was die Debattenqualität im Parlament verbessern wird. Aber noch andere Phänomene sind mir aufgefallen, die mich optimistisch stimmen.

Aktive wie passive Wahlbeteiligung nahm zu

Die Wahl zum Europäischen Parlament hat vor allem eines gezeigt: die Bürgerinnen und Bürger der EU wollen dieses Parlament. Die Wahlbeteiligung war deutlich höher als bei den letzten Wahlen. Seit 1999 war sie immer unter 50%, während sie bei der Wahl dieses Jahr im europäischen Durchschnitt auf über 50% gestiegen ist.

In vielen Ländern - vor allem in den großen Mitgliedsstaaten Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien - wurde aber nicht nur vom aktiven Wahlrecht verstärkt Gebrauch gemacht, sondern auch vom passiven. Viele kleine Gruppierungen traten voller Engagement und Enthusiasmus zu den Wahlen an. Wer würde sich der Mühe eines Wahlkampfes unterziehen, wenn das Parlament als Ort der Auseinandersetzung für die eigenen Ziele nicht eine Wertschätzung erfahren hätte?

Die europäische Medienöffentlichkeit kommt voran

Vielleicht ist es nur ein subjektiver Eindruck, noch dazu aus dem relativ europafreundlichen Deutschland, aber auch die Berichterstattung im Vorfeld der Wahl schien mir ausführlicher zu sein als bei früheren Gelegenheiten. Über bestimmte markante Ereignisse wie z.B. Macrons Initiative „Pour une Renaissance européenne“ wurde in allen 28 Mitgliedsstaaten berichtet und diskutiert, ebenso über Viktor Orbáns Erwiderung. Beide Politiker führten einen Wahlkampf, der nicht nur auf das eigene Land zugeschnitten war, sondern deutlich auf die europäische Bühne abzielte.

Mein Eindruck ist, dass wir mit diesem Wahlkampf einer europäischen Medienöffentlichkeit einen großen Schritt näher gekommen sind. Dieser Eindruck wird auch nicht getrübt durch die (im übrigen voraussehbare) Abwicklung des Spitzenkandidatenverfahrens nach der Wahl. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass jemals so ausführlich über die Beratungen des Europäischen Rates berichtet worden wäre wie dieses Mal. Es gab minütlich aktualisierte Ticker mit allen im Umlauf befindlichen Gerüchten, Halbwahrheiten, Meinungen und Statements aus dem Rat und seinem Umfeld. Als Bürger konnte man ohne viel Mühe ein relativ klares Bild des Meinungsbildungs­prozesses und der verschiedenen Interessen, die zusammengeführt werden mussten, bekommen. Der Ausdruck „Hinterzimmerpoltik“ passt hier überhaupt nicht mehr.

Am Ende war es doch spannend, wie Frau von der Leyen ihre politischen Absichten im Parlament erklären musste. In dieser intensiven Weise hätte Manfred Weber dies sicherlich nicht gemusst. Wenn sich alle an das Spitzenkandidatenverfahren gehalten hätten, wäre seine Wahl ja eine ausgemachte Sache gewesen. Aber Frau von der Leyen musste kämpfen, musste sich erklären und musste zumindest den Eindruck von verbindlichen Zusagen erwecken. Ich kann mich nicht erinnern, dass vor der Wahl eines Kommissionspräsidenten jemals so stark debattiert und auch darüber berichtet worden wäre. So führte die Ablehnung des Spitzenkandidaten sogar zu einem Zugewinn an demokratischer Substanz.

Institutionelle Reformen statt Spitzenkandidatenverfahren

Das Problem mit dem Spitzenkandidatenverfahren liegt nicht darin, dass die Regierungen es einfach ignorieren können. Es liegt woanders. Es suggeriert, wir hätten auf EU-Ebene eine parlamentarische Demokratie wie in vielen Mitgliedsländern. Und es suggeriert, der*die Spitzenkandidat*in könnte nach seiner Wahl zum Kommissionspräsidenten die Politik bestimmen wie ein Regierungschef auf nationaler Ebene. Beides ist nicht zutreffend.

Die Personalisierung von Wahlentscheidungen ist schon in den Staaten höchst problematisch. Die Tendenz, medial gut zur Wirksamkeit kommende Personen (was Manfred Weber übrigens definitiv nicht war!) immer stärker in den Vordergrund zu stellen und Diskussionen über Wahlprogramme zu vermeiden, emotionalisiert und polarisiert die Öffentlichkeit in einer ganz unpolitischen Weise und höhlt auf die Dauer die politische Substanz des Wahlentscheids aus. Eigentlich sollte es doch bei einer Parlamentswahl um die Parteien und ihre Programme gehen, und nicht um Politiker und ihre Gesichter!

Dieses Verfahren nun auf die europäische Ebene zu heben, ist für das Elektorat nicht besonders hilfreich, denn wir sind auf europäischer Ebene noch nicht so weit, dass wir echte europäische Parteien hätten. Es handelt sich mehr um Bündnisse aus nationalen Parteien, die sich aufgrund ähnlicher Grundüberzeugungen mehr oder weniger locker zusammengeschlossen haben. Wie verbindlich deren Wahlprogramme dann sind und wie stark sie „ihren“ Spitzenkandidaten verpflichten können, ist bis jetzt nicht wirklich erkennbar. Die Tatsache, dass die EVP ihren Spitzenkandidaten Manfred Weber beim geringsten Widerstand von Seiten des Rates fallen gelassen hat, spricht hier eigentlich eine deutliche Sprache.

Die gegenwärtige EU ruht auf zwei Legitimationssträngen: auf dem Parlament, aber mehr noch auf den gewählten Regierungen. Wenn man hieran etwas ändern und dem Parlament mehr politische Gestaltungsmacht geben möchte, muss man sich mit folgendem Problem auseinandersetzen: In den kleinen Staaten ist ein mächtiges EU-Parlament gar nicht so beliebt, wie wir in Deutschland oder Frankreich glauben. Viel größer ist die Sorge, dass über die Köpfe der kleinen Staaten hinweg Gesetze beschlossen werden könnten. Dieses Problem zu lösen, wird viele intensive Debatten benötigen. Das Spitzenkandidatenverfahren hilft hier nicht weiter. Wir haben im AK Europa seinerzeit lange zu diesen Fragen gearbeitet und einen, wie wir meinen, gut durchdachten Vorschlag gemacht. Er ruht im Wesentlichen auf vier Säulen:

1. Der Kompetenzbereich, für den das Parlament zuständig sein soll, muss in der Verfassung oder im EUV genau definiert werden, sodass klar ist, was in Zukunft auf europäischer Ebene entschieden werden soll.

2. Ein gewählter Senat ersetzt den Europäischen Rat bzw. den Ministerrat. Einerseits soll ja die nationale Ebene bei der Gesetzgebung auf europäischer Ebene ihre Vetofunktion verlieren. Andererseits gewinnt sie an moralischer Kraft und demokratischer Legitimation, wenn sie gewählt wird.

3. Opting out-Regeln werden den kleinen Ländern institutionell qua Verfassung bzw. EUV zugesichert. Eine qualifizierte Mehrheit in einem nationalen Parlament oder ein nationales Referendum könnte beschließen, dass ein EU-Gesetz in dem Land keine Wirksamkeit erlangt. Diese Option würde vor allem den kleinen Staaten eine stärkere Verhandlungsmacht geben und das institutionelle Gefüge der reformierten EU daran hindern, über die Köpfe der kleinen Staaten hinweg zu marschieren. Wichtig an daran ist, dass die Konflikte im Bereich der Legislative verbleiben, während sie heute immer die Tendenz haben, dass nationale Exekutiven die Legislative dominieren.

4. Die EU-Kommission soll in ihrer Funktion nicht im Sinne des heutigen Parlamentarismus durch das Spiel zwischen Regierung und Opposition politisiert werden. Dies würde zu starken Spannungen zwischen den verschiedenen Mitgliedsländern führen. Es ist gegenwärtig leider so, dass wir es noch nicht gelernt haben, wirklich europäisch über die verschiedenen politischen Alternativen zu diskutieren. Die Debatte bekommt schnell den Charakter von nationalen Gegensätzen: „die Deutschen“ wollen dies, „die Franzosen“ wollen jenes und „die Ungarn“ wollen etwas ganz anderes. Wir befürworten deshalb die Orientierung auf einen Kollegialrat, der in seiner Zusammensetzung alle politischen Kräfte im Parlament und alle Länder mittels eines Proporzsystems umfassen sollte. Die Schweiz macht es seit Jahrzehnten vor, wie ein solches Gremium funktioniert und wie eine solche „entpolitisierte“ Regierung durchaus hervorragende Arbeit leisten kann.

Natürlich benötigt ein solches System auch die Einführung von echten Konsultationsverfahren und Referenden auf europäischer Ebene, um den Bürgern Einflussmöglichkeiten qua Verfassung zuzusichern. Es ist deutlich, dass dies eine großangelegte institutionelle Reform ist, die auf jeden Fall durch einen öffentlich tagenden Vertragsänderungs- oder Verfassungskonvent breit debattiert und am Ende durch ein Referendum europaweit abgestimmt werden muss. Näheres hierzu findet sich in unseren Positionspapieren „Europa neu denken“ und „Für einen europäischen Bürgerkonvent“.

Die Reform der EU steht jetzt auf der Tagesordnung

Europa steht vor gewaltigen Herausforderungen. Der Klimawandel erzwingt gewaltige politische Anstrengungen auch auf europäischer Ebene, die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen und Einwanderern muss dringend geklärt werden, geopolitische Herausforderungen verschiedenster Art setzen äußerst komplexe sicherheitspolitische Diskussionen in Gang, innerhalb der Staaten wie auch zweischen ihnen, und nicht zuletzt steht die Frage der wirtschaftlichen Spaltung innerhalb der EU auf der Tagesordnung. Die Vision des Europas der Vielfalt und Toleranz, des Friedens und des Wohlergehens für alle seine Bürgerinnen und Bürger muss jetzt dringend neu gegriffen werden.

Wir glauben, dass es jetzt an der Zeit ist, die EU-Verträge zu überarbeiten und das Institutionengefüge stärker auf die Bürger*innen auszurichten. Unter den gegenwärtigen Regierungschefs gibt es viele, die für einen Vertragsänderungskonvent offen sind, allen voran Emmanuel Macron. Auch die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrem „Regierungsprogramm“ diese Option ausdrücklich erwähnt. Der von ihr eingebrachte Vorschlag eines Zukunftsrates wäre ein guter Startpunkt, wenn er so ähnlich wie die irische Citizens‘ Assembly gestaltet würde. Hierzu müsste sichergestellt werden, dass

  • die Teilnehmer*innen ausgelost sind

  • institutionelle Akteure keinen Einfluss auf die Beratungen nehmen dürfen

  • die Beratungen sich auf die Institutionen und Verfahrensweisen fokussieren

  • das Ergebnis der Beratungen eine verbindliche Grundlage für die weiteren Debatten im Parlement sein muss

Dialogverfahren, wie sie bisher von der Kommission organisiert wurden, werden nicht weiterhelfen, da die Ergebnisse zu sehr vorstrukturiert gewesen sind. Das Parlament sollte dann das Ergebnis eines solchen ergebnisoffenen Bürgerrates nutzen und einen Vorschlag für eine grundlegende Vertragsänderung erarbeiten. Hierbei kann es seine Kompetenzen nach Art. 48 EUV nutzen und einen Vertragsänderungskonvent fordern. Werden die neu gewählten Abgeordneten diese Mal den Mut finden, in diese Richtung zu gehen?

Quellen

Emmanuel Macron, Pour une Renaissance européenne, https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/03/04/pour-une-renaissance-europeenne, abgerufen 15.8.2019

SPIEGEL online, Orbań weist Reformideen für die EU zurück, https://www.spiegel.de/politik/ausland/viktor-orban-weist-ideen-von-emmanuel-macron-zurueck-a-1256420.html, abgerufen 15.8.2019

Ursula von der Leyen, Eine Union, die mehr erreichen will. Meine Agenda für Europa, https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/political-guidelines-next-commission_de.pdf, abgerufen 16.8.2019. Sie schreibt dort: „Ich will, dass die Bürgerinnen und Bürger bei einer Konferenz zur Zukunft Europas zu Wort kommen, die 2020 beginnen und zwei Jahre laufen soll. Diese Konferenz soll die Europäerinnen und Europäer zusammenbringen und unseren jungen Menschen, der Zivilgesellschaft und den europäischen Institutionen als gleichberechtigten Partnern eine starke Stimme geben. Sie muss gut vorbereitet werden: mit einem klar abgesteckten Rahmen und eindeutigen Zielen, die vorab von Parlament, Rat und Kommission vereinbart wurden. Ich bin bereit, das Vereinbarte weiterzuverfolgen, einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen, sofern diese erforderlich sind. Auch für Vertragsänderungen bin ich offen. Sollte ein Mitglied des Europäischen Parlaments für den Vorsitz der Konferenz vorgeschlagen werden, werde ich diesen Vorschlag voll unterstützen.“

Positionspapier: „Europa neu denken und gestalten“, https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/Positionen11_Europa-neu-denken-und-gestalten.pdf

Positionspapier „Für einen Europäischen Bürgerkonvent“, https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/Positionen15_Konventsvorschlag.pdf

(Korrektur am 15.9.2019: "aktives" und "passives" Wahlrecht korrigiert)

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