Erinnern Sie sich noch, was Sie empfunden haben, als Sie vom Abstimmungssieg der Brexiteers erfuhren? Trotz aller Kritik an der EU waren meine erste Empfindungen Unsicherheit über die weitere Entwicklung der EU, denn schließlich ist es kein Pappenstiel, wenn die drittgrößte Wirtschaft die EU verlässt, und Angst vor einem Aufwallen einer nationalistischen Welle in ganz Europa, vor einem rechtspopulistischen Dominoeffekt. Mit ein paar Tagen Abstand stellte sich aber eine ganz neue Einsicht ein: Die EU ist keine Einbahnstraße! Man kann aus ihr auch austreten. Es gibt ihn wirklich, diesen Artikel 50 EUV. Man kann auch Nein sagen zu einer „ever closer union“! Das empfand ich aus demokratischer Perspektive als erleichternd.
Es gibt keine Einbahnstraße zu einer „immer engeren Union“
Seit wir uns im Zuge der Gründung der Stop TTIP-Kampagne in das Thema „Internationale Handesverträge“ eingearbeitet hatten, haben wir gesagt, dass internationale Verträge immer auch Austrittsklauseln haben müssen. Es widerspricht dem Demokratieprinzip, wenn Zusammenarbeitsvereinbarungen nicht kündbar sind. Sie sind damit dem demokratischen Willensbildungsprozess entzogen, wenn sie einmal in Kraft sind.
Dies gilt auch für die EU-Verträge. Aber hier in Deutschland war dies nie Thema. Die Mitgliedschaft in der EU war Staatsdoktrin, ihre Infragestellung ein Tabubruch. Die Diskussionen verliefen immer nach dem Muster: Entweder bist du für die EU, oder du bist ein rückständiger Nationalist. Für ein „Ja, aber...“ war selten Platz.
Der Brexit hat dies verändert. Plötzlich war die EU kein unausweichliches Schicksal mehr, man konnte aus ihr zumindest auch austreten. „Take back control“, eine der zentralen Parolen der Brexitbefürworter, ist eine urdemokratische Empfindung. Das hat jede*r unbewußt sofort verstanden!
Als Konsequenz war die EU jetzt bedroht. Ihr Auseinanderbrechen war auf einmal vorstellbar. Die Erschütterung und Verunsicherung über den Brexit ging bis weit ins Innere der EU. Dies schuf wiederum ganz neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten, sich positiv zur EU zu verhalten. Auf einmal gingen Menschen für Europa auf die Straße! „Pulse of Europe“ entstand. Der französische Staatspräsident Emanuel Macron gewann die Präsidentschaftswahlen in Frankreich gegen die Rechtsnationalistin Marine Le Pen und hielt kurz danach seine mittlerweile schon fast historische Rede vor der Sorbonne, in dem er in kühnen Worten (etwas weniger kühne) Reformen der EU anmahnte.
Die Diskussionkultur in der EU ist offener geworden
In der Rückschau empfinde ich es so, dass nach dem Brexit eigentlich das erste Mal so etwas wie „europäische Öffentlichkeit“ entstanden ist. Plötzlich gab es in Europa über eine gar nicht mal so kurze Zeit nur ein Thema: der Brexit. Offensichtlich hat es dieses Schocks bedurft, damit die Nachrichtenredaktionen endlich aufwachen und europäische Themen aus den Auslandsteilen ihrer Blätter oder Magazine zu Topthemen machten. Ich glaube, es geht nicht nur mir so, dass wir seitdem über europäische Themen anders denken, anders informiert werden und anders reden.
Die Hinterzimmerpolitik ist im Verschwinden begriffen. Regierungen diskutieren ihre Positionen in aller Öffentlichkeit. War bis zum Brexit nur Insidern und Fachjournalisten bekannt, welche Regierung welche Position vertrat, wird das heute in aller Öffentlichkeit quer durch den europäischen Medienwald abgehandelt. Emmanuel Macron, Mark Rutte, Sebastian Kurz – um ihre Reden und Pressekonferenzen entsteht ein Medienrummel, ein echtes öffentliches Interesse, das vor dem Brexit unbekannt war.
Ein anderes Indiz, das in dieses Bild passt, war die Veröffentlichung des Weißbuchs über die Zukunft Europas durch die EU-Komission. In ihm wurden fünf Szenarien skizziert: (1) „Weiter wie bisher“, (2) „Schwerpunkt Binnenmarkt“, (3) „Wer mehr will, tut mehr“, (4) „Weniger, aber effizienter“ und (5) „Viel mehr gemeinsames handeln“. Es ist meines Wissens das erste Mal gewesen, dass eine Kommission keine klare Vorgabe machte, sondern einen Diskussionsraum öffnete. Dies war ein wichtiges Signal für die weitere Impulsierung der europäischen Debatte.
Das EU-Parlament als europäisches Lagerfeuer?
Aber auch das EU-Parlament wird nun zunehmend als öffentlicher Ort erkannt. Wenn man z.B. die Debatte zur DSGVO, die vor allem 2015 stattfand, vergleicht mit der Debatte zur Urheberrechtsreform, dann sehe ich, dass es zu letzterer eine wirklich öffentliche Debatte in Europa gab. Dabei spielte sicherlich das Internet eine große Rolle, weil ein Teil der Betroffenen sehr internetafin ist. Aber auch die traditionellen Printmedien und öffentlich-rechtlichen Nachrichtenredaktionen müssen etwas geändert haben, denn die Berichterstattung war deutlich intensiver. Ich habe ein Ahnung davon bekommen, was es heißen könnte, wenn das Parlament wirklich der zentale Ort für europäische Debatten wäre, welcher Hebel für die Bildung eines genuin europäischen Bewußtseins uns damit gegeben sein könnte.
Noch nie so oft wie in den letzten Monaten habe ich in den Kommentaren unterschiedlichster Zeitungen gelesen, dass das Parlament mehr Rechte bekommen müsse, dass die Blockade-Optionen des EU-Rates zurückgedrängt werden müssen, dass wir Reformen im Gefüge der EU-Institutionen brauchen usw. Mit der Einschränkung allerdings, dass ich dies erstmal nur in Deutschland so wahr genommen habe.
Die Europawahlen beleben sich
Dieses gestiegene Interesse am EU-Parlament wird sich mit Sicherheit auch auf die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen auswirken. Zum jetzigen Zeitpunkt zwei Wochen vor den Wahlen sieht alles danach aus, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher sein wird als bei den vergangenen Europawahlen. Diese Wahlen haben sicherlich nicht die alles entscheidende Bedeutung, die manche ihnen zusprechen („Gegen rechts, gegen den Nationalismus“ usw.), aber jede*r von uns spürt mittlerweile, dass dieses Parlament eine Bedeutung für uns hat, dass das, was dort beredet und beschlossen wird, wichtig ist.
Zur Wahl stehen diesmal in Deutschland 40 Parteien und Wahlbündnisse, während es 2014 nur 25 waren. In Frankreich sind es 33 Wahllisten, und in Griechenland sind ebenfalls 40 zur Wahl zugelassen. In vielen anderen Mitgliedsländern sieht es ähnlich aus. Eine solche Vielfalt haben wir schon lange nicht mehr erlebt. Die Bürger*innen scheinen Gefallen an den Möglichkeiten zu finden, die die Wahlen ihnen bieten. Etliche Organisationen, die auch von teilweise sehr jungen Menschen gebildet worden sind, stellen sich zur Wahl. Und noch nie ist im Vorfeld einer Europawahl so intensiv über mögliche Zusammenschlüsse und Fraktionen und ihr mutmaßliches prozentuales Abschneiden nach der Wahl berichtet worden.
Nach den Wahlen werden wir sehen, welche neuen Möglichkeiten sich ergeben werden, die Demokratisierung der EU voranzubringen. Ist im neuen EU-Parlament eine genügend große Zahl von Abgeordneten, die sich für eine institutionelle Reform einsetzen wollen? Wird die neue EU-Kommission sich dieses Themas annehmen? Werden die Regierungschef*innen, die in den letzten Monaten öffentlich eine Vertragsänderung forderten, aktiv werden? Wir werden wachsam sein und die Chancen nutzen, die sich uns bieten. Wir sollten auf jeden Fall für einen Vertragsänderungskonvent nach Art. 48 EUV eintreten und darauf hinwirken, dass die Öffentlichkeit in der breitest möglichen Weise an ihm beteiligt wird – wenn denn die EU-Institutionen endlich den Mut finden, sich den notwendigen Reformen zu stellen.
Der Brexit hat seinen Charme verloren
Dies ist alles ist meiner Ansicht nach eine Folge des Brexit. Die EU ist heute viel konkreter für uns als noch vor drei Jahren. Europa beginnt Spaß zu machen, das einseitige Geschimpfe auf Brüssel ist einem differenzierteren Nachdenken gewichen. Und die europäische Idee hat die junge Generation ergriffen. Sie versteht heute besser, dass Europa untergehen kann, wenn die jungen Leute sich nicht für es engagieren.
Demgegenüber hat der Brexit deutlich an Farbe verloren. Die vielen Parlamentsabstimmungen in Großbritannien zum Brexit dieses Jahr führten zu keiner Entscheidung und offenbarten eine echte konstitutionelle Krise des britischen Parlamentarismus, der sich sehr stark auf einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Regierung und Opposition gründet und keine Möglichkeiten der Absprache und des Dialogs zulässt. Wir erlebten aber nicht nur, wie schlecht vorbereitet die Regierung war und wie unflexibel die parlamentarische Tradition in London mit dieser großen herausforderung umging, sondern auch wie komplex diese Austrittsfrage ist. Stillschweigend haben viele passionierte EU-Kritiker seitdem ihre Austrittsforderungen für ihre jeweiligen Länder ad acta gelegt, so z.B. die schwedische Linkspartei („Vänsterpartiet“), die rechten Schwedendemokraten, Marine Le Pen und ihr Rassemblement Nationale und die FPÖ. Auch die deutsche AfD hat ihre Dexit-Forderung deutlich gedämpft. Sie alle orientieren sich jetzt auf eine „Reform der EU“ von innen und schmieden an Bündnissen im zukünftigen EU-Parlament. Sie haben zum Glück keine gemeinsame einheitliche positive Vision für eine verändertes EU. Aber es ist davon auszugehen, dass auch von dieser Seite Versuche unternommen werden, Reformen in der EU anzustoßen. Ist ihr neue Strategie nicht ein sehr deutlicher Hinweis, dass das Europäische Parlament stärker ist als ihnen lieb ist?
Ein Austritt als deliberative Herausforderung
Wir alle haben verstehen lernen müssen, dass ein EU-Austritt nicht ein punktuelles Ereignis ist, sondern ein deliberativer Prozess, in dem die verschiedenen Interessen in einer Gesllschaft sich völlig neu sortieren müssen, weil sich die Folgen ganz unterschiedlich auswirken: in der Fischereiindustrie anders als in der Errdölindustrie, in Nordirland anders als in Wales, in der Finanzindustrie anders als auf dem Land usw. Die Brexit-Abstimmung war nicht der Austritt, sondern der allererste Anfang dieses Austrittsprozesses. Der Brexitprozess ist vor allem an dieser Stelle gescheitert, weil die Tory-Regierung unter Theresa May ihn als ganz normales Regierungsprojekt quasi „abarbeiten“ wollte und eine breite gesellschaftliche Debatte nicht zugelassen hat. „The people has decided for Brexit, we have to deliver Brexit.“
Die wirtschaftlichen und rechtlichen Verflechtungen innerhalb der EU sind mittlerweile so stark, dass ihr Rückbau nicht ohne schwere wirtschaftliche und rechtliche Folgen bleibt. Allerdings verteilen sich diese Folgen ungleich in der Gesllschaft. Deshalb müssen die Eckpunkte des Austrittsszenarios in der Gesellschaft diskutiert werden. Hierzu könnte sich das Instrument der Citizens' Assembly (deutsch: Bürgerrat), das wir in Irland kennen gelernt haben, gut eignen.
Wenn ein solcher mehrjähriger Austrittsprozess demokratisch, inklusiv und transparent gestaltet sein soll, dann sollte er aus heutiger Sicht in vier Phasen ablaufen: (1) Austrittsreferendum, (2) Deliberative Phase mit Bürgerrat o.ä., Ermittlung von Eckpunkten (3) dann erst Aktivierung von Art. 50 EUV und Verhandlungen mit der EU, (4) bestätigendes Referendum über das Verhandlungsergebnis, wobei eine Ablehnung nicht den hard exit zur Folge haben darf, sondern die Rücknahme des Austrittsersuchens nach Art. 50 EUV.
Auf dem Weg zur EU-Reform
Ich möchte an dieser Stelle jedoch betonen, dass ein Austritt letztendlich keine optimale Lösung ist. Besser ist es, sich für eine Reform des institutionellen Gefüges der EU einzusetzen. Dies wird heute offenbar auch von immer mehr Menschen verstanden.
Es gibt einige Anzeichen dafür, dass nach der Europawahl und wenn der Brexit vollzogen und die Verunsicherung durch ihn überwunden ist, die nächste EU-Reform auf die Tagesordnung kommt. Wir sollten uns als Zivilgesellschaft hierauf jetzt schon vorbereiten und versuchen, die relevanten Themenfelder zu besetzen. Hierbei denke ich vor allem an:
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Forderung nach einem Art. 48-Konvent und Ausgestaltung als Bürgerkonvent
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Mehr Rechte für das Parlament, mehr Transparenz im Rat
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Europaweites bestätigendes Referendum für die Vertragsänderungen
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Der Binnenmarkt darf einem sozialen Europa nicht im Wege stehen
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Dezentralisierung: Welche Aufgaben soll die EU übernehmen? Was kann sie besser als die Nationalstaaten alleine? Und was nicht?
In einem folgenden Artikel möchte ich diese Fragen näher beleuchten. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir Ihre Ideen zu diesen Themen schreiben würden.
Stefan Padberg, AK Europa und Welt von Mehr Demokratie e.V.