Wie schnell sich doch der Wind drehen kann! Noch Anfang des Jahres gab es eine lebhafte Debatte darüber, wie die „Konferenz über die Zukunft Europas“ ausgestaltet werden soll. Am 9. Mai hätte sie beginnen sollen. Das EU-Parlament hatte einen sehr weitgehenden und bürgerfreundlichen Vorschlag gemacht, die EU-Kommission hatte ihm nicht widersprochen. Der Ball lag beim Europäischen Rat. Aus gut unterrichteten Kreisen wurde Zurückhaltung von Seiten des Rats signalisiert. Das war schon kein gutes Zeichen.
Und dann kam Corona.
Nationales Krisenmanagement
Plötzlich waren physische Treffen unmöglich, denn die Regierungen sahen sich gezwungen, umfangreiche Kontaktbeschränkungen zu erlassen, um dem sich ausbreitenden Virus Einhalt zu gebieten. Das Vorbild China tat seine Wirkung. Ohne die radikalen Maßnahmen in Wuhan wären die Ausgangssperren in Italien und dann in den anderen Ländern nicht verfügt worden. Kein Politiker in einem demokratischen Land hätte sich bis dahin getraut, so etwas anzuordnen. Deshalb wahrscheinlich auch die späten Reaktionen in Italien und Österreich.
Und so ist der Geist chinesischer Regierungsprinzipien, der Geist eines autoritären Staates, der alle Machtmittel zur Verfügung hat, die die moderne Zeit zu bieten hat, mit dem Virus nach Europa geschwappt und testet jetzt unsere demokratische Ordnung: Wieviel Ausnahmezustand verkraften unsere Demokratien?(1) Und: Er bescherte den Nationalstaaten ein schon lange entbehrtes Gefühl von Macht. Plötzlich waren sie nicht mehr die Bauern in einem von internationalen Konzernen, Abkommen und Institutionen geplanten Schachspiel, sondern sie konnten eigenständig Maßmahmen erlassen, die zudem alles auf den Kopf stellten, was wir in 30 Jahren Globalisierung, Liberalisierung und Deregulierung für normal zu halten gewohnt waren.
Und sie gewannen durch ihr entschlossenes Auftreten die Herzen ihrer Bürgerinnen und Bürger zurück. Wann gab es in den letzten Jahrzehnten jemals solche Szenen? Applaus für Ordnungskräfte, Ärzte und Pflegekräfte, spontane Appelle an die Solidarität und den Bürgersinn, von unten organisierte Hilfsaktionen für in Not geratene Mitbürger:innen – es war, als ob die räumlich-physische Distanz sich in ein neues Gemeinschaftsgefühl sublimiert hätte.
Kollateralschaden EU
Aber es gab einen Kollateralschaden, und das ist die europäische Dimension, das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl, das noch zu Anfang des Jahres so stark zu spüren war. Plötzlich werden die Grenzen geschlossen. Was in der Flüchtlingskrise von 2015 noch zu großen Debatten führte, ist auf einmal kein Problem mehr. Obwohl Virologen in ganz Europa sagten, dass das Virus an den Grenzen nicht halt machen würde und Grenzschließungen nicht zum üblichen Repertoir der Epidemiebekämpfung gehörten, wurden sie angeordnet. Plötzlich gab es Streit um die Verteilung von Schutzmasken und Intensivbetten. „My Country First“-Attitüden fielen unangenehm auf.
In dieser frühen Phase der Epidemie mit starken Bedrohungsgefühlen ist ein Schalter umgelegt worden, ist etwas gekippt. In einer Bedrohungssituation verengt sich der Blick, Entscheidungen werden in rasendem Tempo ohne wirkliche Abwägung und Debatte quasi „aus dem Bauch“ heraus getroffen. Und da zeigte sich auf einmal, wo wirklich das Herz der Bürgerinnen und Bürger hängt. Der amerikanische Publizist George Friedman hatte es vorhergesagt: In einer ernsthaften Krise werden sich die Bürgerinnen und Bürger von der EU ab- und den Nationalstaaten zuwenden. Das ist die bittere Wahrheit für alle europäisch fühlenden Menschen.
Ein anderes Bild von Europa in der Krise war möglich
Es hätte auch anders kommen können. Man hätte die Krise von Anfang an auch als europäische Krise erkennen und vor allem empfinden können. Man hätte erleben können, dass es sich nicht um eine „italienische“, „spanische“, „französische“ oder „österreichische“ Krise handelte, sondern um Notlagen in Regionen wie Norditalien, Madrid, Elsass-Lothringen und Ischgl. Man hätte nicht die Grenzen der Mitgliedsländer schließen müssen, sondern die Hotspots unter Quarantäne stellen können. Man hätte grenzübergreifend Fragen können, wer Hilfe braucht und wer Hilfe anzubieten hat und so ein Europa der Solidarität und des Mitgefühls entstehen lassen können.
Das alles ist nicht geschehen. Europa hat sich verkrümelt und übrig geblieben ist ein nationalstaatlicher Flickenteppich, der wie immer Mühe hat, sinnvolle Maßnahmen auf europäischer Ebene zu beschließen. Das Gezerre um die Eurobonds hat deutlich gemacht, wie weit europäische Solidarität in diesen Zeiten geht (oder eben nicht geht). Zu dieser Situation passt dann leider auch das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, dass zwar nicht durch diese Situation verursacht ist, mit ihr aber merkwüdig synchron geht. Europa hat es wahrlich schwer zur Zeit.
Wiederaufbau des Gesundheitssystems im Geist europäischer Solidarität
Was ist daraus zu lernen? Sicherlich werden wir uns nach der Krise damit befassen müssen, wie die Gesundheitssysteme in den EU-Ländern besser zusammenarbeiten können, denn aller Voraussicht nach wird dies nicht die letzte Virenpandemie gewesen sein. Gemeinsame Standards bei medizinischen Geräten und Statistiken müssen vereinbart werden. Ein EU-weites Krankenhausregister könnte eingerichtet werden. Eine gemeinsame Beschaffungsbehörde für Medizingeräte und Medikamente könnte aufgebaut werden. Dies alles selbstverständlich gut vernetzt mit den entsprechenden nationalen und regionalen Institutionen.
Und vor allem: Lasst uns endlich die Ärzte und Pflegekräfte vernünftig bezahlen! Gebt den Krankenhäusern die finanziellen Mittel, die sie dringend benötigen! Und gebt den Kommunen und Regionen die ärztliche Versorgung, die angemssen ist! Hören wir endlich auf mit dem Gieren nach Effizienz und Kostendeckung. Gesundheit ist keine Ware! Das sollte fortan nicht nur in unseren Herzen, sondern auch in ganz Europa praktizierte Wirklichkeit und lebendige Tat werden.
Wird die Zukunftskonferenz kommen?
Aber wird dies reichen, um den wahren europäischen Geist wieder zurückzubringen? Ich fürchte nicht. Nach der Krise wird der Schwung, der vor der Krise spürbar war, nur wiederkommen können, wenn sich alle EU-Institutionen mit voller Kraft einsetzen für die „Konferenz über die Zukunft Europas“. Nur so wird sich, wenn überhaupt, das Momentum und die Initiative zurückgewinnen lassen.
Ist dies eine realistische Hoffnung oder Wunschdenken? Bald werden wir es wissen. Bald werden sich die Ausgangsbeschränkungen in Europa wieder lockern und die Planungen für die Zukunftskonferenz können weitergehen. Der Ball liegt nach wie vor bei den Regierungen der Mitgliedsländer. Zum 1. Juli übernimmt Deutschland den EU-Ratsvorsitz. Es wäre also Aufgabe der deutschen Regierung, Planungen in dieser Richtung zu machen. Aber leider hört man nichts davon. Das Thema ist, wenn überhaupt, mit ganz niedriger Priorität auf der Agenda. Es ist nicht erkennbar, dass die Debatte über die Zukunftskonferenz im Rat im Herbst anders verlaufen wird als im Januar.
Das verheißt nichts Gutes für die Zukunftskonferenz. Entweder wird sie weiter verschoben werden, oder sie wird in so kastrierter Form aufgeführt werden, wie wir es seit Jahren schon von den sog. Bürgerdialogen der EU-Kommission gewohnt sind: Versammlungen mit handverlesenem Publikum, das artig Wünsche an die Kommission richten darf, und wo die Frage, ob, wann und wie sie umgesetzt werden, ganz in den Händen der EU-Institutionen verbleibt und am Ende des Tages im Rat versackt.
CITIZENS TAKE OVER EUROPE!
In dieser Situation hat sich ein Bündnis aus europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen gefunden und hat sich entschlossen, weiter an der Idee einer Bürgerkonferenz für eine bessere Zukunft der EU zu arbeiten. Die Alliance4Europe, Another Europe is possible, Citizens Initiative, CIVICO Europa, Democracy International, EUMANS, European Alternatives, European Democracy Lab, European Civic Forum, Mehr Demokratie, NewEuropeans, The Good Lobby, das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement und WeMove haben einen ersten Meilenstein geschafft: einen Online-Aktionstag am 9. Mai 2020, den Europatag, dem 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung. Ein Tag der Debatte über die EU und wie es weitergehen könnte. 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und mehr als 45.000 Facebook-Besucherinnen und Besucher nutzten online die Gelegenheit, um sich in dieser Krisenzeit auszutauschen und das Thema Europa wieder anzufachen.
Egal, was die Regierungen nun beschließen werden, ob sie die Zukunftskonferenz wieder aufgreifen oder fallen lassen oder verschieben oder kastrieren werden: Wir werden versuchen, einen Bürgerpartizipationsprozess „von unten“ zu organisieren. Wir werden den Stimmen der Bürgerinnen und Bürger Gehör verschaffen und sie zurück auf die europäische Bühne bringen!
Es ist ein ehrgeiziges Projekt, und wir wissen nicht, wie weit wir kommen werden. Aber wenn Europa eine Chance haben soll, wenn Europa eine lebenswerte, bürgerfreundliche, demokratische, nachhaltige und solidarische, eine europäische Zukunft haben soll, dann müssen sich alle Menschen, die Europa im Herzen tragen, jetzt engagieren!
Lasst uns den Stier bei den Hörnern packen!
BE PART OF IT: https://citizenstakeover.eu
(1) Vgl. „Demokratie in Krisenzeiten“ von Mehr Demokratie (https://www.mehr-demokratie.de/themen/corona-und-demokratie/unsere-forderungen/), „Speerpunten voor democratie en rechtsstaat in coronatijden“ von Meer Democratie (https://www.meerdemocratie.nl/onze-speerpunten-voor-democratie-en-rechtsstaat-corona-tijden) und die Stellungnahme von Prof. Tamara Ehs „Coronakrise und die Demokratie“ (https://science.apa.at/site/natur_und_technik/detail.html?key=SCI_20200401_SCI87296249653983748)